25. Kapitel
Lady Violet Bruce saß auf einer blauen Polsterbank. In ihrem grünen Crêpekleid mit den langen weißen Handschuhen, die ihr bis zum Ellbogen reichten, hätte sie niemand für etwas anderes gehalten, als ein angesehenes Mitglied der illustren Londoner Gesellschaft. Nur jene, die sie vor zwei Jahren im Zirkus des alten Graham hatten spielen sehen, wussten es besser: Dies war die frühere »Lady Violine«, die die Zuschauer mit ihrem Geigenspiel verzaubert hatte.
Aber nur die Vampire wussten, wer sie in Wahrheit war. Prinzessin Angelica Kourakins Cousine, Ismail Bilens Tochter und Gattin von Lord Patrick Bruce, dem Oberhaupt des Nordclans, und ihre kleine Tochter Catherine, die friedlich in den Armen ihres Vaters schlief, war ebenso eine Auserwählte, wie sie selbst.
»Vertraust du ihr?«, erkundigte sich Violet bei ihrer Cousine. Sie sprach leise, um die Kinder nicht aufzuwecken. Es war spät, doch hatte es keins der beiden Elternpaare übers Herz gebracht, die Kinder schon wieder aus den Augen zu lassen, nachdem sie ihnen einen Monat lang gefehlt hatten. Zuerst waren es die Mütter gewesen, die ihre Kinder kaum loslassen konnten, doch nun waren die Väter an der Reihe. Alexander und Patrick standen beiderseits des Kamins, ihre kostbaren Schützlinge in den Armen.
»Ich weiß nicht. Sie scheint die Kinder aufrichtig zu lieben, und Mikhail vertraut ihr. Aber sie verschweigt uns etwas«, antwortete Angelica nach einigem Überlegen.
»Was denn?« Violet runzelte die Stirn. »Wie kann sie etwas vor uns verbergen? Du hast doch ihre Gedanken gelesen, oder?« Aber Violet wusste sehr gut, dass es möglich war, selbst vor Gedankenlesern etwas zu verbergen - sie hatte es selbst getan, anfangs, als sie ihr schreckliches Geheimnis hüten musste ... Aber hatte diese junge Frau, die ihnen die Kinder zurückgebracht hatte, etwa auch einen Grund, gewisse Gedanken zu verbergen?
Angelica sprang frustriert auf. »Ich habe sie nicht verhört, Violet. Ich weiß, dass sie den Kindern nichts Böses will, und weiter habe ich nicht geforscht. Mikhail schreibt, dass er und die Kinder ihr sein Leben verdanken. Und das soll mein Dank dafür sein? Dass ich in ihre Gedanken eindringe!?«
Violet warf einen raschen, unsicheren Blick zu ihrem Mann. Patrick war der einzige Clanführer, der seine Abneigung gegen das Gedankenlesen offenkundig gemacht hatte. Er war gegen den Missbrauch dieser Gabe, aber das war Angelica ebenfalls, wenn auch aus anderen Gründen. Sie hatte erst gelernt, ihr Talent in den Griff zu bekommen, als sie ihren Mann, Alexander kennen lernte. Davor war sie zwanzig Jahre lang den Gedankenströmen ihrer Mitmenschen wehrlos ausgeliefert gewesen. Kein Wunder, dass sie sich meist auf ihrem Landsitz versteckt und London gemieden hatte.
»Ich kann deine Hemmungen ja verstehen, Angelica aber in diesem Fall steht die Sicherheit der Kinder auf dem Spiel. Mikhails Sicherheit. Wir schulden dieser Frau sehr viel, aber wir wissen nicht, was sie uns verheimlicht Vielleicht stellt sich ja heraus, dass wir ihr gar nichts schulden, ja dass sie gefährlich ist.«
»Meine Frau hat recht, Prinzessin«, stimmte auch Patrick zu. Violet nahm die Bemerkung mit Überraschung zur Kenntnis. Sie hatte erwartet, dass er Angelicas Standpunkt vertreten würde. Prüfend schaute sie ihren Mann an und bemerkte den verstörten Ausdruck in seinen hellblauen Augen. Etwas war anders. Etwas war geschehen, das seine Meinung geändert hatte. Seine nächsten Worte bestätigten dies.
»Du weißt, ich bin kein Befürworter des Gedankenlesens, egal um wen es sich handelt. Aber nun muss ich feststellen, dass ich aufgrund dieser Skrupel Blut an den Händen habe. All das hätte wahrscheinlich verhindert werden können, wenn ich nur gelegentlich auf die Gedanken meiner Clansleute geachtet hätte. Dieses Risiko dürfen wir hier nicht eingehen. Es wäre möglich, dass diese Frau deinen Bruder getäuscht hat.«
Violet wusste, dass ihr Mann dabei an die Vampirfrau dachte, die er vor zwei Nächten hatte töten müssen. Patrick hatte sie gekannt und machte sich nun Vorwürfe, dass er sie nicht eher durchschaut, ihre mörderischen Tendenzen nicht »erlauscht« hatte. Natürlich konnte man nicht wissen, ob das wirklich etwas geändert hätte oder nicht. Denn Menschen (oder Vampire), die Mord im Sinn hatten, achteten gewöhnlich sorgfältig darauf,
ihre Gedanken zu verbergen - so wie sie selbst damals auch.
»Wie auch immer, dies liegt nicht in deiner Verantwortung Angelica, es liegt in meiner. Wir werden Miss Nell zu uns rufen, und ich werde sicherstellen, dass sie nicht unsere Feindin ist. Dann werden wir weitersehen.«
Patrick verließ seinen Platz am Kamin, trat zu seiner Frau und übergab ihr das Kind.
Violet holte tief Luft und atmete die Düfte ihrer näheren und ferneren Umgebung ein: Staub auf dem Fensterbrett, die Geruchsreste eines längst eingetrockneten Weinflecks auf dem Teppich, Heidekraut (Patricks Duft), polierte Holzoberflächen, Ölfarbe ... Violet brauchte einen Moment, ehe sie Nells einzigartigen Geruch fand, aber da war er, hier, im Erdgeschoss, im hinteren Teil des Hauses. Sie roch nach Rosen und Sonnenschein und nach etwas Süßem ...
»Sie ist im Musikzimmer.«
Angelica nickte. »Gut, dann wollen wir sie zu uns rufen lassen.«
Nell hatte einen solchen Ruf natürlich erwartet, war aber dennoch überrascht über das, was sie erblickte, als sie den Raum, der wohl das große Empfangszimmer sein musste, betrat. Noch nie hatte sie zwei so schöne Paare gesehen.
Mikhails Schwester, Angelica, hatte sie bereits kennen gelernt, den Mann an ihrer Seite aber nicht. Er hatte etwas Osteuropäisches an sich, sah aus wie der Held aus einem Liebesroman. Groß, scharfgeschnittene Gesichtszüge, stürmische graue Augen. Nein, kein Liebesroman, eher ein Abenteuerroman. Eine Art Odysseus oder Achilles!
Der Mann, der links neben ihm stand, war ebenso atemberaubend, aber auf andere, fast vertraute Weise. Seine Züge besaßen etwas Sanftes, Sensibles, was einen attraktiven Kontrast zu seiner offensichtlichen Charakterstärke bildete. Vielleicht war es ja die Hand, die das Kristallglas an seine Lippen führte, aber seine Finger waren die Finger eines Poeten, eines Künstlers. Wenn Angelicas Mann Achilles war, der Angreifer, dann war dieser hier Hector, der Verteidiger.
Was die vierte Person betraf, so wirkte diese wie ein wildes, scheues Wesen: goldene Haut, blassgrüne Augen und dichtes, rabenschwarzes Haar. Sie sah aus, als würde sie ihr Haar jeden Moment aus seiner sorgfältig frisierten Beschränkung befreien und unter dem Mond tanzen gehen.
Nell holte tief Luft. Wie schön sie waren. Wie kostbare Juwelen aus einer anderen Welt - genau wie Mikhail. Und überhaupt nicht wie sie.
»Nell, möchten Sie sich nicht setzen?« Angelica deutete auf ein Sofa, das zwischen den Sesseln stand, auf denen die beiden Frauen einander gegenübersaßen. Die Männer machten keinerlei Anstalten sich zu setzen, beide hatten sich fast schützend hinter ihren Frauen aufgestellt.
Nell nahm zögernd auf dem Sofa Platz. In ihrer zerknitterten Zofentracht kam sie sich vor wie ein hässliches Entlein. Aber, bei George Washingtons Armee, was spielte es schon für eine Rolle, wie sie aussah?
»Wurde schon jemand zu Mikhail geschickt, Euer Gnaden?« erkundigte sie sich bei Angelica, der Einzigen im Raum, die sie bereits kannte.
»Ja, keine Sorge.«
Angelicas Mann war es, der ihre Frage beantwortete. Er musterte sie interessiert, als könne er sich keinen rechten Reim auf sie machen. Das war alles so seltsam! Warum schaute man sie so komisch an? Und warum redeten sie so langsam, als ob sie schwer von Begriff wäre?
»Nell, darf ich vorstellen: Dies ist mein Mann, Prinz Alexander Kourakin.« Angelica wies mit einer anmutigen Handbewegung auf ihren Mann. »Und das ist meine Cousine, Lady Violet Bruce und dort ist ihr Mann, Lord Patrick Bruce.«
»Ist mir eine Ehre«, sagte Nell bescheiden und tat ihr Bestes, sich nicht von all den Adelstiteln einschüchtern zu lassen. »Euer Gnaden, wenn ich noch einmal nachfragen dürfte. Wie viele Männer wurden geschickt? Wir wurden von drei Mördern verfolgt, aber Mikhail vermutete, dass noch weitere auf uns lauern könnten ...«
»Keine Sorge, Miss Nell. Ich habe meine vertrauenswürdigsten Männer hingeschickt. Alles hervorragende Schützen mit guter Nahkampferfahrung. Wenn Mikhail Hilfe braucht, bekommt er sie auch.«
Dies hatte Lord Patrick gesagt, und nun wusste Nell, warum er ihr irgendwie vertraut vorkam. Man merkte es ihm zwar kaum noch an, aber ein paar seiner Worte verrieten seine Herkunft als Schotte - der Heimat ihrer Mutter ... Ja, Lord Patrick sprach ähnlich wie ihre geliebte, der Verdammnis anheimgefallene Mutter.
»Miss Nell, wir alle haben Mikhails Brief gelesen. Er wollte, dass Sie uns etwas mitteilen? Etwas, das den Schutz der Kinder betrifft?« Lady Violet war es, die sich diesmal zu Wort gemeldet hatte. Sie war die Einzige, die Nell entspannt zulächelte. Wenn sie doch bloß nicht Dinge von ihr wissen wollten, die zu verraten sie nicht bereit war!
»Ich ... Ich habe Prinzessin Angelica bereits gesagt, dass ich mir nicht sicher bin, was Mikhail damit gemeint haben könnte, Lady Bruce ...«
Lord Patrick stellte erregt sein Glas auf dem Kaminsims ab. »Bitte lügen Sie uns nicht an, Miss Nell. Mikhail scheint Ihnen zu vertrauen, und allein aus diesem Grund betrachten wir Sie als Freundin. Aber Freunde belügen einander nicht.«
Also, das stimmte nicht. Nell kannte eine ganze Menge Leute, die sich Freunde nannten und einander dennoch belogen. Aber das waren wohl keine richtigen Freundschaften ... Ach, bei den Hauern des wolligen Mammuts! Was spielte das für eine Rolle? Sie wussten, dass sie log!
Auf einmal spürte Nell einen stechenden Schmerz im Nacken, der sich rasch in ihrem ganzen Kopf ausbreitete. Sie zuckte zusammen. Wie lange hatte sie eigentlich schon nicht mehr richtig geschlafen? Sie brauchte dringend Schlaf! Nell massierte sich erschöpft die Schläfen. Sie konnte kaum noch richtig denken. Sie konnte ihnen nicht die Wahrheit sagen, die würden sie ihr nie glauben!
»Patrick, bitte«, sagte Angelica stirnrunzelnd.
Auf einmal hörte der stechende Schmerz wieder auf.
»Miss Nell«, hob Patrick erneut an, »bitte verstehen Sie doch: Es geht hier um die Sicherheit unserer Kinder. Angelica sagte, dass Sie ihnen aufrichtig zugetan sind?« »Ja natürlich!«, entgegnete Nell hitzig. »Was sollte ich denn sonst hier tun?«
Gut « Lord Patrick lächelte. »Sie sehen also, wir wollen alle dasselbe. Wir wollen die Kinder beschützen. Und deshalb müssen wir unbedingt erfahren, warum Mikhail Sie für so wichtig hält, wenn es um den Schutz der Kinder geht Miss Nell, Sie haben uns unsere Kinder zurückgebracht. Sie können uns alles sagen, wir werden Ihnen zuhören. Wir werden Sie nicht verurteilen.«
Und ob ihr das werdet!, hätte Nell am liebsten gebrüllt, aber sie schwieg. Sie hatten recht, das Wichtigste war, die Kinder zu beschützen. Und wenn das bedeutete, dass sie diesen Menschen von ihrem Fluch erzählen und riskieren musste, dass man sie rauswarf - oder ins Irrenhaus steckte - nun, dann würde sie eben einen Weg finden, wieder hierher zurückzukehren und das Haus im Auge zu behalten, um sicherzugehen, dass den Kindern nichts zustieß, bis Mikhail ihr sagte, dass die Gefahr vorüber war.
Sie holte tief Luft.
»Ich kann sehen, was passieren wird.«
Die Anwesenden starrten sie verblüfft an.
»Sie meinen, Sie können in die Zukunft sehen?«, fragte Lady Violet schließlich, aber keineswegs in dem sarkastischen Ton, den Nell erwartet hätte.
»Ja, Mylady. Nun ja, nicht die Zukunft allgemein. Ich kann sehen, was in einem bestimmten Raum, an einem bestimmten Ort passieren wird. Und wenn jemand nicht weit von mir entfernt steht, kann ich sehen, was mit ihm oder ihr passieren wird.«
Eigenartig. Es war fast eine Erleichterung, es auszusprechen. Als würde ihr eine Last von den Schultern genommen. Doch dann bemerkte sie die Gesichter der anderen Sie glaubten ihr nicht! Beim linken Fuß der Queen! Sie hatten doch die Wahrheit hören wollen!
Nells Augen wurden schmal. Die Zeit verlangsamte sich, blieb stehen und beschleunigte sich dann.
»Nell?« Angelica musterte sie besorgt. »Sie sind müde. Es war eine lange Reise.«
Nell schüttelte energisch den Kopf. »Nein, bitte, so hören Sie mir doch zu. Sie wollten die Wahrheit, und ich werde sie Ihnen sagen: Ein Page muss vergessen haben, dieses Fenster dort richtig zu schließen. Bald wird der Wind es aufblasen, und diese Vase hier wird herunterfallen. Sie fällt auf den Teppich und wird nicht zerbrechen, sondern genau dorthin rollen.« Nell zeigte auf eine Stelle hinter einer Gruppe von Stühlen.
Die Anwesenden schwiegen geschockt. Sämtliche Blicke waren auf die von Nell genannte Stelle gerichtet. Die Sekunden vergingen ... nichts geschah.
»Angelica, vielleicht solltest du Miss Nell auf ein Gästezimmer bringen, damit sie sich ein wenig ausruhen kann«, sagte Alexander schließlich.
Aber Nell wollte nicht. Sie hatte sich noch nie geirrt. Ihr Fluch hatte sie noch nie im Stich gelassen. Wie seltsam. Sie hatte doch nicht etwa begonnen, sich auf ihn zu verlassen? Auf eine Fähigkeit, die sie eines Tages in den Wahnsinn treiben würde, so wie ihre arme Mutter?
Prinzessin Angelica kam sofort zu ihr und wies mit einer freundlichen Geste zur Türe. »Nell, kommen Sie, ich . . «
»Nein! Bitte, das ist lächerlich! Sie wollten, dass ich's Ihnen sage, Sie wollten die Wahrheit hören!«, rief Nell mit lauter, zittriger Stimme.
»Ja Sie haben recht, Miss Nell, wir haben Sie dazu gezwungen. Es tut uns leid. Wir hätten sehen müssen, wie erschöpft Sie sind«, ergänzte Lord Patrick. Auch er trat nun auf sie zu, um sie dazu zu bewegen, sich von Angelica fortbringen zu lassen.
Aber konnten sie denn nicht sehen? Nein, natürlich konnten sie nicht. Dabei mussten sie doch nur einen Moment warten!
»Ich wusste, dass Sie mir nicht glauben würden. Aber jetzt müssen Sie. Um der Kinder willen müssen Sie!«
Doch etwas war anders, die Atmosphäre war gekippt, die Stimmung hatte sich gegen sie gewandt. Sie konnte es spüren, sie war hier nicht länger willkommen. Man nannte es »Erschöpfung«, war aber nicht länger willens, ihr zuzuhören. Man hielt sie für verrückt! Für verdammt! Genau wie die Dörfler. Und es stimmte ja auch; gleich würde man sie wieder so eigenartig ansehen, und das mit Recht! Aber nicht jetzt. Nicht jetzt, verdammt noch mal. Sie war nicht verrückt. Sie war nicht verrückt!
Nell presste die Augen zusammen und ballte die Fäuste.
»ICH BIN NICHT VERRÜCKT!«
Ihrem Ausbruch folgte eine geschockte Stille. Niemand rührte sich, während Nell schwer atmend versuchte, ihre Beherrschung wieder zu gewinnen. Die Augen hielt sie immer noch geschlossen. Sie wollte ihre Gesichter gar nicht sehen, ihre mitleidigen Mienen. Ihre Blicke, die sie auf Schritt und Tritt verfolgten, so wie sie jede Bewegung ihrer Mutter verfolgt hatten. Diese Blicke, diese Mienen waren es, die Sky Witherspoon in den Wahnsinn getrieben hatten. Diese Augen, die ihr immer und überall hin folgten, die alles beobachteten, was sie tat. Diese Augen, die ihre Mutter umgebracht hatten. Die ihren Vater umgebracht hatten. Und sie allein zurückgelassen hatten.
Es schien, als ob eine Ewigkeit vergangen wäre, aber immer noch hatte sich niemand gerührt. Als Nell es nicht länger aushielt, verzog sie das Gesicht.
»Es tut mir leid, ich werde jetzt gehen.«
Sie schlug die Augen auf, aber das, was sie sah, war ganz und gar nicht das, was sie erwartet hatte. Man beachtete sie überhaupt nicht. Sämtliche Blicke hingen an der Vase, die langsam genau dort ausrollte, wo Nell es vorhergesagt hatte.